
Eines Morgens tat ich es wie die anderen, legte mich in ein freies PatientInnenbett, ruhte für eine Stunde und beschloss, einen Beitrag darüber zu verfassen – über all das andere und besondere hier, was nicht dem üblichen, deutschen Klinikalltag entspricht. Und dazu ist mir einiges eingefallen:
Privatsphäre, wie wir es aus den deutschen Kliniken kennen, gibt es hier kaum. Die PatientInnen liegen fast alle in einem Raum. Es gibt eine gemeinsame Toilette/Waschraum. Nur wenige PatientInnen verfügen über einen eigenen abgetrennten Bereich (weil komplizierter Fall oder Grund zur Isolation).
Jede*r weiß auch über alles und jeden Bescheid, egal ob die PatientInnen oder die Familienmitglieder – nichts mit Datenschutz und Schweigepflicht. Die Familie spielt hier im Übrigen eine sehr wichtige Rolle. Sie versorgt ihre Kranken, bringt regelmäßig Essen und Getränke vorbei, wacht am Bett oder assistiert bei der Medikamenteneinnahme. In den abgetrennten Zimmern ziehen z.T. ganze Familien mit ein und kümmern sich um ihre Angehörigen.
Im großen Stationsraum befindet sich ebenso der Arbeitsplatz der Fach- und Pflegekräfte. Dort wird dokumentiert, Medikamente gerichtet und gequatscht. Tagsüber herrscht dort deswegen eine ganz schön laute Geräuschkulisse. Sehr unterhaltsam ist es, wenn sie sich in der Gruppe ganz angeregt unterhalten, diskutieren und dabei wie wild gestikulieren. Ich verstehe oft nichts, wenn sie vom Englischen in ihre Muttersprachen wechseln. Urplötzlich fangen dann vor allem die Damen an, in eine sehr schrille Tonlage zu wechseln, die in meinem Ohr wirklich ein Fiepen verursacht oder schreien über den ganzen Hof, wenn sie die/den GesprächspartnerIn aus dem Nichts wechseln. Das mag am Anfang für unsereins etwas irritierend sein.
Die Art der Visite/Besprechung der Behandlung erfolgt nicht nur zwischen Arzt und PatientIn. Es kommen die Familie und die wichtigsten medizinischen Personen zusammen. Erst dann wird das Vorgehen gemeinsam vorgestellt und besprochen.
Wenn mich meine Hebammenstudentinnen hier sehen würden… Sie würden den Kopf schütteln. All das, was ich ihnen vom ersten Tag im Kreißsaal versuche zu vermitteln, werfe ich hier über Bord! Ein korrektes, hygienisches und vor allem organisiertes Arbeiten ist hier schier unmöglich, z.T. aus Unwissen der MitarbeiterInnen, weil aber auch ganz klar die Ressourcen fehlen. Nichts mit Vor-und Nachbereitung, Flächen/Schleimhaut-und Hautdesinfektion vor Injektionen oder dem Katheterisieren, Recapping der Kanülen ist das normalste der Welt, es gibt pro Vorgang eine Spritze und eine Kanüle usw.! Das Einzige, was ich für mich hier umsetzen kann, ist das Nutzen meiner selbst mitgebrachten unsterilen Handschuhe und eine konsequente Händedesinfektion mit meinem eigenen Sterillium. Und dass die Antibiosen hier wie bunte Smarties verteilt werden, ist dann vielleicht auch gar nicht mal so verkehrt 🙂 Diverse Vitamine werden standardisiert gegeben. Durch den Staub und den Sand ist es auch nie wirklich zu 100% sauber, auch wenn die Reinigungskräfte täglich ganz fleißig putzen.
Manche Geräte gleichen Ausstellungsstücken aus dem Medizinhistorischen Museum – aber sie funktionieren noch einwandfrei! Verfallsdaten verlieren hier ebenso an Bedeutung – hier ist jede*r froh, wenn überhaupt irgendetwas da ist. Und ich glaube, angebrochene Medikamente werden zum Teil wirklich so lange verwendet, bis sie aufgebraucht sind.
Einen klaren Dienstplan gibt es hier nicht, irgendwie ist trotzdem immer jemand da und alle scheinen sich sehr gut miteinander abzustimmen. Die meisten MitarbeiterInnen gehen 6 von 7 Tagen arbeiten und nutzen den freien Tag, um ihre Familie zu unterstützen oder Wäsche zu waschen. Einige haben auch Doppelschichten, arbeiten parallel noch in anderen Institutionen oder besuchen eine Schule.
Die MitarbeiterInnen sind MeisterInnen im Improvisieren, können mit wenig viel erreichen. Sie finden für alles noch eine Verwendung, bevor hier wirklich etwas weggeworfen wird:
- Infusionen werden einfach an einen Nagel an die Wand gehangen. Die Dosierungen (z.B. für den Wehentropf) werden so grob geschätzt. Infusionssysteme werden generell personenbezogen immer wieder verwendet.
- Verbandsmaterialen – Was nicht passt, wird passend gemacht!
- Schränke und Ordnung – Nennen wir es Regale und ganz viele (Bananen)kisten, in denen so lange rumgewühlt wird, bis das Richtige gefunden wurde.
- Keine Patientenunterlage oder Lappen zum Waschen zur Hand? – PatientInnen liegen auch mal auf den Einmal-Plaste-Schürzen (die wir eigentlich als Selbstschutz zur Geburt anziehen) und heute wurde eine Babymütze als Waschlappen umfunktioniert.
- Lichtquelle – Fehlt oft. Die Handyleuchte ist dann die Lösung, um beispielsweise die Stelle für iv-Zugänge zu finden oder einen Wundbereich auszuleuchten. Wenn der Strom mal wieder nicht da ist, ist auch hier die Handyleuchte wichtig und so einige andere kleine Lampen.
- Einen Paravent in die Halterung fixieren – Katheter eignen sich wunderbar zum Festbinden diverser Sachen. Ich habe nun meine mitgebrachten Kabelbinder verteilt, damit die sterilen Katheter auch ausschließlich zum Katheterisieren genutzt werden können.
- Handschuhe fehlen – Aufgrund der Covid-Pandemie herrscht aktuell ein akuter Handschuhmangel. Und ich rede dabei nur von unsterilen Handschuhen. Das Personal ist jedoch clever genug, umso sparsam wie möglich und dennoch unter Einhaltung des bestmöglichen Eigenschutzes zu agieren. Und zur Not werden einmal mehr die Hände gründlich mit dem „Waschpulver“ gewaschen.
Die verschiedenen Berufsgruppen arbeiten hier sehr interprofessionell. Die Tätigkeiten lassen sich schwer abgrenzen. Jede*r arbeitet irgendwie überall mal mit. Und es wird dabei immer geschaut, wer erfahren und gerade verfügbar ist. So näht die Hebamme auch mal einen schwer verletzten Fuß und die Krankenschwester leitet eine Geburt.
Im Übrigen gibt es hier einige männliche „Krankenschwestern” und “Hebammen“, die auf ihren Beruf und ihre Bezeichnung sehr stolz sind. Ich muss gestehen, dass ich die männlichen Kollegen hier großartig finde und ich wirklich sehr gerne mit ihnen zusammen arbeite. Im Vergleich zu den weiblichen Kollegen strahlen sie immer eine ungemeine Ruhe und Geduld aus, sind so einfühlsam und empathisch.
Die Dokumentation wird auf das Minimum beschränkt, beinhaltet aber meiner Meinung nach die allerwichtigsten Fakten.
Es gibt den Driver und den Watchman – 2 sehr wichtige Personen hier, die für den routinierten Ablauf des Klinikgeschehens nicht fehlen dürfen.
Die PatientInnen, egal ob jung oder alt halten sehr viel Schmerz aus. Mehr als Paracetamol und Diclofenac gibt es nicht. Da kann die Wunde noch so groß sein, sie bleiben tapfer, verziehen lediglich das Gesicht oder zischen kurz. Das bewundere ich wirklich sehr!
Manch eine/r wird sich vielleicht nun denken: „Das geht so nicht, das kann man doch so nicht machen!?“ Die MitarbeiterInnen hier kennen es aber nicht anders, und ich glaube, sie müssten sich ebenso an ein deutsches Krankenhaus gewöhnen, das sich gefühlt 30 Jahre in der Zukunft befindet. Sie würden auch nicht verstehen können, warum wir in Berlin nach jeder Geburt und Naht alle Instrumente wegwerfen (müssen).
Vielleicht kann ich in den nächsten Wochen ein paar Ideen einbringen, die zukünftig auch umgesetzt werden können. Aber ich habe nicht das Recht hier her zu kommen, zu kritisieren oder alles umzukrempeln. Dafür haben sie hier ungemein viel Erfahrung, was das praktische Vorgehen betrifft. Da lerne ich jeden Tag neu von ihnen.
Das Klinikpersonal ist sehr qualifiziert, motiviert, fleißig und engagiert. Es herrscht keine Hierarchie, Putzkraft und Krankenschwester frühstücken gemeinsam und machen Witze. Sie selbst haben oft nicht viel. Zum Beispiel bin ich die einzige, die jeden Tag in Berufskleidung und FFP2-Maske arbeiten kann. Die meisten haben 1-2 Kasacks, die mindestens 2 Nummern zu groß sind und irgendwann vor Jahren in den Niederlanden ausrangiert wurden. Sie sind dankbar für ihre Anstellung in Fatous Klinik und äußern mir dies sehr oft. Unter schwierigen Bedingungen versuchen sie das Bestmögliche für ihre PatientInnen zu ermöglichen, gehen dabei sehr liebevoll mit jedem um und freuen sich über jeden kleinen Fortschritt und Erfolg.
Begriffserklärungen für die Nicht-MedizinerInnen:
- Recapping – Ich stecke die Kanüle, also die Nadel, in die Hülle zurück. Dies soll eigentlich dringend vermieden werden, um eine Verletzung mit der benutzten Kanüle zu verhindern.
- Antibiosen – Antibiotika
- Infusionssysteme – Zubehör, um PatientInnen einen Tropf/Flüssigkeit über die Vene zu verabreichen
- Katheter – ein kleiner, dünner Schlauch, um die Harnblase zu entleeren
- Paracetamol und Diclofenac – gängige, frei verkäufliche Schmerzmittel